Wirtschaftslage und Konjunktur hängen von vielen Einflussgrößen ab. Ein ganz wichtiger Faktor
- der Fachmann weiß das - ist die Stimmung der Verbraucher. Stehen schlechte Zeiten ins Haus
konsumiert der Bürger weniger. In der Krise gilt es daher, gute Stimmung zu verbreiten. Schlägt
man heute eine deutsche Zeitung auf, hat man den Eindruck, das Wirtschaftswunder sei erneut
ausgebrochen. Da ist von Produktionssteigerungen zu lesen, dass es nur so raucht. Der Prozent-
nebel trübt indes den Blick auf die Fakten. Dem Bürger qualmt der Schädel angesichts dramatisch
steigender Prozentzahlen. Selbst das Brutto-Inlandsprodukt beginnt zu steigen. Um 0,3 Prozent.
Was soll man davon halten? Welchen Zahlen kann der Bürger trauen? Was sagen ihm Prozente?

Prozente haben für den Fachmann großen Charme. Man kann sie in jeder Richtung gestalten. Der
Kreativität sind keine Grenzen gesetzt. Es kommt bei den Prozenten nämlich immer auf die Basis
an. Der Ausgangswert ist ebenso wichtig, wie der Bezugszeitpunkt. Vormonat, Vorquartal oder
Vorjahr. Nur dann ist die Richtung klar und man weiß, wo man wirklich steht. Oben oder unten.
Die Talsohle sei inzwischen längst erreicht, hört man aus vielen Kanälen. Nahezu unisono. Von
nun an muss es demnach bergauf gehen - um im Bild zu bleiben. Und die Politik tut derweil das
ihre: Wirtschaftsminister Karl-Theodor von und zu Guttenberg erklärt die Wirtschaftskrise mal
eben für beendet. Basta - ist man geneigt zu sagen. Der Mann hat Mut. Doch hat er auch recht?

Die Frage ist nicht leicht zu beantworten. Für viele Bürger hat die Krise nämlich noch gar nicht
begonnen. In anderen Ländern sind ihre Auswirkungen schon sehr viel deutlicher zu verspüren.
Diese Länder werden als Konsumenten deutscher Waren über Jahre mehr oder weniger ausfallen.
In Deutschland haben bis dato die Maßnahmen der Regierung wie die Verlängerung des Kurz-
arbeitergeldes oder die Abwrackprämie die Krise abgemildert bzw. hinausgeschoben. Für diese
Effekte hat man mal eben einige Milliarden in die Hand genommen. Für die Rettung maroder
Banken wurden noch weitaus mehr Milliarden in den großen Pott geworfen. Das Geld hat man
zwar nicht. Doch angesichts einer veritablen Weltwirtschaftskrise muss man halt zu unkonventio-
nellen Mitteln greifen. Solange der Papierpreis nicht steigt, ist das Drucken von Geldscheinen eine
durchaus preiswerte Angelegenheit - um auch hier im Bild zu bleiben. Und da viele Bürger und
sogar Politiker den Unterschied zwischen einer Million und einer Milliarde eh nicht kennen,
ist das nicht weiter tragisch (Selenz´ Kommentar vom 23. Februar 2009 ,,Wirtschaftskrise").
Irgendjemand wird den Schuldenberg irgendwann hoffentlich einmal abtragen. Doch das hat Zeit.
Jetzt stehen erst einmal Wahlen ins Haus. Da erwartet der Bürger halt, dass man ihn bezaubert....

Den zauberhaften Prozentzahlen stehen indes gar nicht so tolle Nachrichten gegenüber. In den
USA brechen immer noch und immer mehr Banken zusammen. Waren es in 2007 noch 5 Institute,
so stieg deren Zahl über 25 in 2008 auf aktuell schon 77 Banken bis August diesen Jahres. Hier-
zulande entwickelt sich nicht nur die Hypo-Real-Estate zum Fass ohne Boden. Derweil kämpfen
jenseits der Papiergeld-Fassade strategisch wichtige Zweige der deutschen Wirtschaft weiterhin
ums nackte Überleben. Ganze Teile des Werkzeugbaus stehen buchstäblich vor dem Aus. Deren
Auslastung sinkt weiter. Container-Terminals laufen leer, die Güterwagenkapazität ist halbiert.

Ein kleines Rechenexempel zum Thema Prozent-Nebel: Die Produktion der Firma XYZ habe sich
im Zuge der Krise beispielsweise um 50 % reduziert. Nicht nur im Maschinenbau und in Teilen
der Grundstoffindustrie war eine Halbierung der Produktion im Zuge der Krise keine Seltenheit.
Liest man dann, die Produktion der Firma XYZ sei im Vergleich zum Vorquartal um 50 Prozent
gestiegen, geht Otto Normalverbraucher vielfach davon aus, die alte Produktionshöhe sei wieder
erreicht. Doch weit gefehlt. Die scheinbar spektakuläre prozentuale Steigerung bezieht sich näm-
lich auf die neue Basis. Und die hatte sich im Vergleich zum Ausgangswert zuvor bekanntlich hal-
biert. Ausgehend von der neuen Basis sind mit einem Anstieg um 50 % gerade einmal 75 % des
Ausgangswertes erreicht. Mit einer solchen Auslastung kann auf Dauer kein Unternehmen über-
leben. Das Beispiel zeigt, wie genau man seine Zeitung lesen muss. Ein Prozent ist zwar stets ein
Prozent, sein Wert kann indes ganz verschieden sein. Darin liegt der Zauber des Prozent-Nebels...

Peine, den 18. August 2009 gez.: Prof. Dr.-Ing. Hans-Joachim Selenz